Türkei: Kemal Atatürk

Türkei: Kemal Atatürk
I
Türkei: Kemal Atatürk
 
Mit dem Waffenstillstand von Mondros (Mudros) im Oktober 1918 war das Osmanische Reich aus dem Ersten Weltkrieg als Verlierer hervorgegangen; es musste einer Besetzung des Landes zustimmen, die Flotte ausliefern und die Armee demobilisieren. Im November erschien eine Kriegsflotte der Entente vor Istanbul und leitete die Besetzung der Hauptstadt ein. Von dem letzten osmanischen Sultan Mehmed VI. (1918-22) wurde General Mustafa Kemal Pascha (1881-1938) als Armeeinspekteur für die Demobilisierung der türkischen Truppen nach Anatolien entsandt.
 
Weitere Küstenstädte und -regionen wurden von der Entente besetzt, während Griechenland versuchte, sich wegen der dort wohnenden Griechen İzmir (Smyrna) und das Hinterland zu sichern. Die osmanische Regierung wurde durch den Friedensvertrag von Sèvres härtesten Bedingungen unterworfen. Alle arabischen Gebiete mussten abgetreten werden, İzmir und ein Teil Westanatoliens wurden griechisch und das übrige Land fast völlig in fremde Einfluss- und Besatzungszonen aufgeteilt.
 
Währenddessen formierte sich im Innern Anatoliens unter der Führung Mustafa Kemals und anderer hoher Offiziere und Beamter der militärische und politische Widerstand gegen die Besatzungen und die Parteigänger des alten Regimes. In erfolgreichen Kämpfen konnte das Land gegen die Franzosen im Süden und die Armenische Republik im Osten verteidigt werden. Ein Abkommen vom 16. März 1921 mit der Sowjetunion beließ Kars und Ardahan bei der Türkei. Die Italiener räumten freiwillig den Südwesten und leisteten Verzicht auf die Dodekanes (Südliche Sporaden).
 
Die Kämpfe mit Griechenland waren am längsten und erbittertsten (griechisch-türkischer Krieg). İzmir wurde besetzt; am 11. Oktober endeten durch den Waffenstillstand von Mudanya die Kämpfe. Durch Gesetz vom 1. November 1922 wurde das Sultanat abgeschafft, Sultan Mehmed VI. verließ auf einem britischen Kriegsschiff das Land.
 
Am 13. Oktober 1923 wurde Ankara zur Hauptstadt des neuen Staates proklamiert, der durch Beschluss der Nationalversammlung am 29. Oktober zur Republik erklärt wurde. Zum größten außenpolitischen Erfolg wurde der Friedensvertrag von Lausanne, der nach monatelangen zähen Verhandlungen mit den einstigen Kriegsgegnern am 24. Juli 1923 unterzeichnet werden konnte. Im Oktober 1923 verließ der letzte Soldat der Entente türkischen Boden; die Grenzen der Türkei wurden im heutigen Umfang garantiert, wobei die Türken 1926 noch auf das Gebiet von Mosul im Nordirak verzichten mussten. Ansässige Griechen wurden mit Ausnahme der Bewohner von Istanbul nach Griechenland umgesiedelt.
 
In den folgenden Jahren konnte die kemalistische Republik an den innenpolitischen und wirtschaftlichen Neuaufbau des Landes gehen. Als Staatspartei war die Republikanische Volkspartei 1923 gegründet worden; ihr Programm von 1931 bestand aus den »sechs Säulen« des Republikanertums, Nationalismus, der Volksverbundenheit (Populismus), der staatlichen Kontrolle über die Hauptindustrien (Etatismus), der Trennung von Staat und Religion (Laizismus) und revolutionärer Gesinnung. 1926 wurden das italienische Strafgesetzbuch und das Schweizer Zivilgesetzbuch eingeführt und so die islamische Gesetzgebung außer Kraft gesetzt. Schon 1925 hatte man die Derwischklöster und -orden aufgehoben und den Fes als männliche Kopfbedeckung verboten. Anstelle des arabischen wurde ein lateinisches Alphabet eingeführt; der Islam verlor seinen Status als Staatsreligion. 1934 mussten allgemein Familiennamen angenommen werden; Mustafa Kemal erhielt von der Nationalversammlung den Familiennamen Atatürk (»Vater der Türken«); im selben Jahr bekamen die Frauen das aktive und passive Wahlrecht.
 
Als Atatürk 1938 starb, hinterließ er seinem Nachfolger Ismet Inönü ein wirtschaftlich geordnetes Land, die sozialen und innenpolitischen Fragen waren jedoch noch ungelöst.
II
Türkei: Kemal Atatürk
 
Der Sieg Atatürks
 
Nach seinem Amtsantritt im Juli 1918 trennte sich der neue Sultan Mehmed VI. Wahideddin von seinem Großwesir Tevfik Pascha und berief Damad Ferid Pascha, einen Repräsentanten der liberalen und dezentralistischen Kräfte, an die Spitze des Kabinetts. Dessen Politik richtete sich an der Erhaltung der Vorrechte des Hauses Osman aus und nahm dafür einen Ausgleich mit britischen Vormachtsinteressen in Kauf. Da die neue Regierung bei anhaltenden Unruhen eine direkte Intervention der Entente befürchtete, erteilte sie dem politisch ehrgeizigen, aber regierungskritisch eingestellten General Mustafa Kemal Pascha den Auftrag, im Schwarzmeerraum griechische und türkische »Banden« aufzulösen.
 
In der Zwischenzeit hatten griechische Truppen infolge eines Beschlusses der Pariser Friedenskonferenz die Stadt İzmir und ihr Hinterland besetzt. Das von der britischen Regierung unter Premierminister David Lloyd George gedeckte griechische Vorgehen entfachte den türkischen Widerstand in Anatolien. Die griechische Besatzungsarmee begnügte sich dort nicht mit der Entwaffnung der türkischen Bevölkerung, sondern verteilte darüber hinaus Waffen an die anatolischen Griechen, die sich nach einem Aufruf ihres Patriarchen aus der osmanischen Staatsbürgerschaft »entlassen« sahen. Vor dem Hintergrund dieser Entwicklung versammelten sich am 23. Mai 1919 zahlreiche Türken auf dem Sultan-Ahmed-Platz in Istanbul zu einer Protestkundgebung.
 
In Nordanatolien angekommen, nahm Mustafa Kemal Pascha Verbindung mit hohen Befehlshabern und Verwaltungsbeamten auf. Von Amasya aus sandte er erste Erklärungen ins Land: Die Regierung in Istanbul sei unfähig, die territoriale Einheit und Unabhängigkeit des Landes zu wahren. In einem geheim gehaltenen Artikel seines Rundschreibens untersagte er die Auflösung von Heeresformationen und entzog sie damit der Befehlsgewalt Istanbuls. Aus Istanbuler Depots wurden Waffen und Munition nach Anatolien geschmuggelt. Auf den beiden Kongressen in Erzurum und Sivas (Juli und September 1919) bemühte sich die kleine Gruppe militärischer Führer in Anatolien um eine breitere Legitimierung ihres Handelns. Der Kongress in Sivas konstituierte sich als »Nationale Versammlung«, auch wenn nur etwa 30 Delegierte an ihm teilnahmen. Dem politischen Geschick Kemal Paschas gelang es in dieser Zeit, Militärs — die im Osten den Ton angaben —, lokale Notabeln — im ägäischen Raum dominierend — und religiöse Amtsträger — Ulema und Derwischscheiche — zusammenzufassen und den Widerstand gegen äußere (Entente, Griechen) und innere Feinde (Sultansregierung) zu koordinieren. Der Kongress von Sivas schuf die »Nationalen Streitkräfte« und damit ein machtpolitisches Gegengewicht zu Istanbul.
 
Nach Wahlen gegen Ende 1919 trat am 12. Januar 1920 in Istanbul ein neues osmanisches Parlament zusammen, das — von der Einheit der osmanischen Länder in ihrem Vorkriegsbestand ausgehend — am 20. Januar 1920 einen »Nationalpakt« verabschiedete, die Gleichberechtigung der Muslime in den Nachbarländern mit den Minderheiten auf türkischem Boden forderte und sich bereit erklärte, die osmanischen Staatsschulden anteilig zu zahlen. Unter verstärktem Druck auf die Sultansregierung gingen die Ententemächte am 16. März 1920 von der symbolischen zur tatsächlichen Besetzung Istanbuls über. Unter dem Eindruck dieser Vorgänge in Istanbul versammelte sich am 23. April 1920 in Ankara unter der Präsidentschaft Kemal Paschas eine »Große Türkische Nationalversammlung«. Bei deren Konstituierung wurde zum ersten Mal der Ländername »Türkei« verwendet. Kurz zuvor hatte die Sultansregierung unter dem Großwesir Ferid Pascha ein Gutachten, ein Fetwa, des Scheichülislam Dürris ade Abdullah Efendi veranlasst, das die Nationalbewegung unter Kemal Pascha als Aufstand gegen das Kalifat wertete und alle Beteiligten zu Ungläubigen erklärte. Der Mufti von Ankara veröffentlichte ein Gegen-Fetwa zugunsten der Nationalisten.
 
 Der Nationalstaat
 
Im gewaltsamen Vorgriff auf das ihm zugestandene Gebiet im westlichen Anatolien schritt Griechenland am 22. Juni 1920 zum Angriff auf dieses Gebiet. In den zwei Schlachten von İnönü bei EskiÇehir konnte Oberst İsmet, später İsmet İnönü, die griechische Invasionsarmee aufhalten. Die Signalwirkung dieses Sieges war erheblich. Italien und Frankreich zogen sich aus einem Teil ihrer »Einflussgebiete« zurück. Im östlichen Vorfeld Anatoliens zwang General Kasim Karabekir im Abkommen von Gümrü/Alexandropol die junge armenische Republik, auf die ihr im Vertrag von Sèvres zugesagte Unabhängigkeit zu verzichten (2./3. Dezember 1920). Die Regierung in Ankara gewann zunehmend außenpolitische Bewegungsfreiheit. Der Vertrag von Moskau mit der Sowjetunion (16. März 1921) war das erste von Ankara abgeschlossene internationale Abkommen.
 
Unter dem Oberbefehl Mustafa Kemals konnten die nationaltürkischen Truppen in der entscheidenden Schlacht am Sakarya (10. Juli 1921) den griechischen Vormarsch nach Ankara stoppen. Nach einjährigem Stellungskrieg in Westanatolien konnten sie die Griechen in der Schlacht von Dumlupɪnar bei Afyon am 30. August 1922 endgültig schlagen und sie bis İzmir verfolgen. Im Oktober 1922 wurde in Mudanya ein Waffenstillstand geschlossen. Großbritannien musste sich mit dem Ergebnis abfinden, weil Frankreich jetzt eigene Wege beschritt.
 
Nach langen und zähen Verhandlungen kam am 24. Juli 1923 das umfangreiche Vertragswerk von Lausanne zustande. Die Türkei erreichte wieder ihre wirtschaftliche Unabhängigkeit. In einem Nebenvertrag wurde der Austausch der muslimischen Bevölkerung Griechenlands mit den griechischen Bewohnern der Türkei beschlossen. Die Muslime West-Thrakiens und die griechischen Bewohner Istanbuls durften bleiben. Nicht verschont wurden die türkischsprachigen Orthodoxen und die griechischsprachigen Muslime der jeweiligen Staaten. Der Austausch betraf etwa 1,25 Millionen Griechen und 0,4 Millionen Türken.
 
 Wiederaufbau und Reform
 
Am 1. November beschloss die »Große Türkische Nationalversammlung«, das Amt des Kalifats vom Sultanat zu trennen. Mehmed VI. Wahideddin, der 36. osmanische Sultan, verließ daraufhin am 17. November mit seiner Familie auf einem britischen Kriegsschiff Istanbul. Abd ül-Medjid, der Kronprinz, wurde als Kalif von Ankaras Gnaden eingesetzt, jedoch wenig später abgesetzt. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte das Schicksal der Türkei in den Händen einer provisorischen, von der Nationalversammlung »bevollmächtigten« Regierung unter Mustafa Kemal gelegen. Mit der Flucht des Sultans war der Weg frei zur Gründung der Republik, nachdem schon am 13. Oktober 1923 Ankara zur Hauptstadt erklärt worden war. Ein entscheidender Schachzug Mustafa Kemals war die Unterdrückung der Opposition in der Nationalversammlung. Nach »Neuwahlen« im Sommer 1923 bestand das Parlament überwiegend aus seinen Gefolgsleuten. Mit der Umwandlung der »Vereinigung für die Verteidigung der Nationalen Rechte in Anatolien und Rumelien« in eine »Republikanische Volkspartei« erreichte er eine solide Machtbasis.
 
In den vorausgegangenen Kriegen war die anatolische Bevölkerung um 28 Prozent gesunken, insgesamt hatten 2,5 Millionen anatolische Muslime ihr Leben verloren. Die Opfer unter den Armeniern werden auf mindestens 0,6—0,8 Millionen Menschen beziffert, die der Griechen auf 0,3 Millionen. Der Westen Anatoliens war im Zuge des griechischen Vormarsches und Rückzuges stark zerstört worden. Städte wie Bilecik, YeniÇehir, İnegöl, Afyon, Söğüt und Adapazarɪ waren vollständig abgebrannt. Zu den wichtigsten politischen Maßnahmen der Regierung gehörte die Aufhebung des Zehnten, der Naturalsteuer, die der bäuerlichen Bevölkerung jahrhundertelang auferlegt worden war und fast 30 Prozent der Staatseinnahmen ausmachte (1925). Die junge Republik leitete eine begrenzt erfolgreiche Autarkiepolitik ein. Der Verfall der Agrarpreise in der Weltwirtschaftskrise (1928/29) bedeutete einen erheblichen Einbruch. Erst um 1930 wurde das Lebensniveau der Vorkriegszeit wieder erreicht. Ein erster Fünfjahrplan (1934—38) trug die Handschrift sowjetischer Berater.
 
Für Mustafa Kemal war eine ganz offensichtlich gegen islamische Institutionen gerichtete Kulturrevolution der Kern seines Programms. Die Wirksamkeit dieser Politik wird sichtbar, wenn man bedenkt, dass die atatürkschen Reformen als unveränderliche Bestandteile in alle jüngeren türkischen Verfassungen (zuletzt 1982) aufgenommen wurden. Mit der Aufhebung des Kalifats (3. März 1924) hatte das Haus Osman den letzten Rückhalt auf türkischem Boden verloren und wurde ausgewiesen. Gleichzeitig wurden alle türkischen Schulen dem Ministerium für Nationale Erziehung unterstellt. Das bedeutete die Auflösung zahlreicher höherer Lehranstalten für die Ausbildung von islamischen Gelehrten (Medresen). Das Ministerium für Angelegenheiten des islamischen Rechts (Scharia) wurde durch eine Generaldirektion für religiöse Fragen ersetzt, analog verfuhr man mit dem Ministerium für fromme Stiftungen. Mustafa Kemal war selbst an der Türkisierung des Gebetsrufs beteiligt, der zuerst am 30. Januar 1932 in seiner arabischen und dann türkischen Form verkündet wurde. Die islamischen Bruderschaften wurden energisch bekämpft. Besonders sichtbar waren die Folgen des »Gesetzes über das Tragen von Hüten«, mit dem der Fes und der Turban aus dem öffentlichen Leben verbannt wurden. Für den Gesichtsschleier der Frauen wurden keine gesetzlichen Regelungen getroffen, doch verschwand er zunehmend aus dem Bild der Städte.
 
In einer 36-Stunden-Rede im Oktober 1927 rechtfertigte Mustafa Kemal, seit 1934 Atatürk (»Vater der Türken«) genannt, seine Reformen. Diese nutuk wurde zur »Bibel« des kemalistischen Geschichtsbilds. Die entscheidende Reform in Richtung auf eine Trennung von Religion und Staat war die fast wörtliche Übernahme des Zivilgesetzbuches der Schweiz (1926). Die in den islamischen Rechtsnormen festgeschriebene Minderwertigkeit der Frau wurde damit beseitigt. Bis 1934 erhielten Frauen auf allen städtischen und staatlichen Ebenen das passive und aktive Wahlrecht. 1935 nahmen 17 weibliche Abgeordnete in einer Nationalversammlung von 386 Mitgliedern Platz. Am 10. April 1928 verschwand der Satz der türkischen Verfassung, der den Islam als Religion der Republik Türkei bezeichnet hatte. Gegen alle Voraussagen erfolgreich war die Umstellung auf die lateinische Schrift innerhalb weniger Monate. Die neue Schrift wurde in Alphabetisierungskampagnen, den Nationalschulen, ins ganze Land getragen. Ein staatlich verordnetes Geschichtsbild behauptete eine frühe Einwanderung von Türken in den Vorderen Orient, um den türkischen Nationalismus mit der anatolischen Vergangenheit zu versöhnen. Gleichzeitig wurde die in jungtürkischer Zeit betriebene Purifizierung des Türkischen vorangetrieben: Tausende von Wörtern arabischer oder persischer Herkunft wurden zum Teil mit nachhaltigem Erfolg durch Kunstbildungen ersetzt. Am 3. Februar 1926 wurde der Religionsgelehrte İskilipli Atɪf Hodscha zusammen mit zwei anderen Angeklagten vor dem Revolutionsgericht in Ankara zum Tode durch den Strang verurteilt. Man hatte ihm seine gesamte »reaktionäre« Biographie zum Vorwurf gemacht, unter anderem die Verteilung einer Broschüre über »Die Nachäffung der Europäer und den Hut« aus dem Jahr 1924. Der Hodscha habe auch nach Verkündigung des Hutgesetzes seine Propaganda im Untergrund fortgesetzt.
 
 Der Kampf Atatürks gegen seine Widersacher
 
Im Februar 1925 brach im Herzland der Zaza-Kurden ein Aufstand aus, der sowohl die Merkmale einer religiös motivierten Rebellion als auch einer kurdisch-nationalistischen Erhebung trug. Die Aufständischen konnten sich jedoch nur kurze Zeit behaupten. Scheich Sait, die treibende Kraft des Aufstandes, wurde gefasst und gehängt; zahlreiche Kurden wurden in westliche Landesteile deportiert. In anderen Landesteilen gab es weitere Guerilla-Aktivitäten, von denen nur der Dersim-Aufstand (1937/38) größere militärische Gegenmaßnahmen erforderte. Mustafa Kemal benutzte die Lage, um sich ein Gesetz zur »Wiederherstellung von Ruhe und Ordnung« genehmigen zu lassen. Es erlaubte der Regierung nicht nur einen harten Zugriff auf Kurden und religiöse Amtsträger, sondern auch eine verschärfte Zensur der unliebsamen Istanbuler Presse. Ein Attentatsversuch in İzmir (15. Juni 1926) auf Mustafa Kemal lieferte den Vorwand, mit prominenten Gegnern abzurechnen.
 
Der Übergang zum Einparteiensystem erfolgte nach einem riskanten Experiment mit einer zugelassenen Oppositionspartei im Wahljahr 1931. Weder im Parlament noch vor den Wahlen konnte von einer freien, demokratischen Aussprache die Rede sei. 1931 wurde auch das Netzwerk der Türken-Heime, einer kulturpolitischen Organisation, aufgelöst und nach und nach durch die »Volkshäuser« ersetzt. Eine Anzahl von Organisationen wie die nationale Frauenvereinigung löste sich selbst auf mit der Begründung, ihre Ziele seien mit der Revolution erreicht. Die fortschreitende Deckungsgleichheit von Staat und Republikanischer Volkspartei fand ihren Ausdruck in der Übernahme der kemalistischen Prinzipien von 1931 in den Verfassungstext.
 
In den Dreißigerjahren beteiligte sich Ankara nach Abschluss eines Freundschaftsvertrages mit Griechenland erfolgreich an der Bildung regionaler Bündnissysteme mit seinen westlichen (Balkanpakt 1934) und östlichen Nachbarn (Pakt von Sadabad 1937). In Montreux wurde 1936 das bis heute gültige Abkommen über die türkische Kontrolle der Meerengen — gegen den Widerstand der Sowjetunion — unterzeichnet. Noch in Atatürks Todesjahr leiteten Wahlen in dem umstrittenen »Sandschak von Alexandrette« (İskenderun) die Rückkehr der Provinz aus dem syrischen Mandatsgebiet Frankreichs in die Türkei ein. Kemal Atatürks Sondergesetzen fielen etwa 600 Menschen durch Exekution und weitere 7500 durch Verhaftungen zum Opfer. Das Fehlen einer bemerkenswerten Opposition erlaubt aber den Schluss auf einen breiten Konsens, zumindest der Elite, mit seinen Maßnahmen zur Austrocknung islamischer Einrichtungen und zum Aufbau eines westlichen Schul- und Hochschulsystems.
 
Prof. Dr. Klaus Kreiser
 
Weiterführende Erläuterungen finden Sie auch unter:
 
Türkei: Zwischen Kemalismus und Tradition
 
Grundlegende Informationen finden Sie unter:
 
Osmanisches Reich: Aufteilung als Höhepunkt des Kolonialismus
 
 
Adanir, Fikret: Geschichte der Republik Türkei. Mannheim u. a. 1995.
 Ahmad, Feroz: The making of modern Turkey. Neudruck London u. a. 1996.
 
Der gebrochene Blick nach Westen. Positionen und Perspektiven türkischer Kultur, herausgegeben von Zafer Cenocak. Berlin 1994.
 Hourani, Albert Habib: Die Geschichte der arabischen Völker. Aus dem Englischen. Sonderausgabe Frankfurt am Main 1997.
 Kreiser, Klaus: Kleines Türkei-Lexikon. Wissenswertes über Land und Leute. München 1992.
 
The transformation of Turkish culture. The Atatürk legacy, herausgegeben von Günsel Renda und C. Max Kortepeter. Princeton, N. J., 1986.
 Zürcher, Erik J.: Turkey. A modern history. London u. a. 21997.

Universal-Lexikon. 2012.

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